Vortrag von Dr. Remi Stork

(Referent für Familienpolitik und Grundsatzfragen der Jugendhilfe,

Diakonie rwl)

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Erziehung – zeitgemäße Gedanken zu einer aktuellen Herausforderung in der Kita

 

Die Rede von der Erziehung ist in professionellen Diskursen in Kitas, Jugendarbeit, Jugendhilfe und Schule irgendwie untergegangen …

Nach den gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen der 1968er Jahre hatte Erziehung einen schlechten Ruf – sie stand für übertrieben autoritäres, besonders auch strafendes Handeln. Daher – und auch weil wir von der Entwicklungspsychologie lernten, was Kinder schon alles können, kam der Ruf nach dem „Ende der Erziehung“ (Hermann Giesecke). Der Pädagoge Reinhart Wolff sprach davon, dass Erziehung nur noch als „Nichterziehung, aber in gekonnter Weise“ zu verstehen sei.

In Kitas wird aber immer noch erzogen; es muss auch erzogen werden, wie später noch erklärt wird. Meistens findet Erziehung statt, ohne dass das so genannt wird. Manches wird lieber Bildung genannt, weil in der Bildungsförderung ein echter Neustart gelungen ist: ausgehend vom Kind; besonders vom kindlichen Spiel.

Heute ist BILDUNG im Nachdenken über die Praxis in Kitas dominierend: Studiengänge sind darauf fokussiert, Forschungsprojekte, politische Absichten: Bildung ist das Thema; Erziehung wird wenig bedacht. In den Bildungs- und Erziehungsplänen der Länder wird Erziehung zwar aufgegriffen, aber überwiegend kurz und klassisch – als Anleitung durch die Erwachsenen thematisiert. So heißt es in den Bildungs- und Erziehungsempfehlungen von Rheinland-Pfalz, Erziehung sei der „mitgestaltende Anteil der erwachsenen Bezugspersonen an den kindlichen Bildungsanstrengungen.

Angesichts der täglichen praktischen Herausforderungen die „Lebenswelt Kita“ zu gestalten und der gesellschaftlichen Entwicklungen sowie kulturellen und sozialen Diversitäten erscheint mir das als nicht ausreichend.

Aber beginnen wir von vorne – mit der Frage, was Erziehung überhaupt ist und heute sein kann.

 

Als Erziehung werden Handlungen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht zu fördern.“ (Wolfgang Brezinka)

Hier ist von HANDLUNGEN die Rede; d.h. mehr als Worten! Diese Handlungen aber verbergen sich meist im Alltag, in Routinen wie Essen, spielen, reden, … Ohne die Brille einer Theorie lässt sich Erziehung in diesen Routinen oft nicht erkennen.

Erziehung ist umfassender gedacht als Bildung – will die ganze Persönlichkeit ansprechen; nicht nur Teile davon. Bildung schaut stärker auf die Selbstbildung / Erziehung schaut stärker auf die Erwachsenen als Akteure! Aber: Erziehung ist auch stark auf die Handlungen und Antworten des Kindes angewiesen; ist ein dialogisches Unterfangen.

Früher hätte man gesagt; dass Erziehung beeinflussen bedeutet. Heute spricht man stattdessen von „fördern“, um klar zu machen, dass nur positiv gemeinte Beeinflussung Erziehung genannt werden kann.

 

Erziehung und Bildung – auf der Basis gemeinsamer Wurzeln (Bindung und Beziehung) gehen sie andere Wege im Denken und Handeln. Aber gemeinsam ist ihnen, dass es immer darauf ankommt, über das Beobachten und Verstehen zum richtigen Handeln zu kommen

Erziehung

 

Bildung

  • Erziehung ist die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Tatsache, dass Heranwachsende sich entwickeln, sofern diese Reaktionen auf die Mündigkeit der sich entwickelnden Menschen verpflichtet sind.

 

  • Sprachgebrauch: jemanden erziehen

 

  • Prozess: selbständig werden in der Gesellschaft

 

  • Zweck: Mündigkeit

 

  • Ende: spätestens mit 18 Jahren

 

(in Anlehnung an Peter Menck)

  • Bildung ist die Arbeit, in der Menschen sich ihr Menschsein in der Aneignung von und in Auseinandersetzung mit der Kultur erarbeiten

 

 

 

  • Sprachgebrauch: sich bilden

 

  • Prozess: Aneignung von Menschen Möglichem

 

  • Zweck: Vollkommenheit

 

  • Ende: Lebensende

 

 

Wer braucht Erziehung? Und wer profitiert von Erziehung?

Kinder bedürfen der Erziehung / sie können ohne Erziehung nicht gut aufwachsen. Sie können nicht allein aus eigener Kraft zu einem selbständigen, gemeinschaftsfähigen und selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft werden und brauchen eine „Hinführung“. Immanuel Kant formulierte treffend: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung“.

Moderne Psycholog*innen konkretisieren dies und sprechen von Entwicklungsaufgaben, die in unterschiedlichen Lebensaltern anliegen: im Vorschulalter sehen sie besonders die Förderung der Balance von Autonomie und Verbundenheit im Vordergrund.

Aber auch die Gesellschaft kann nicht auf Erziehung verzichten, weil sich sonst das Gute der Kultur nicht erhalten und das Schlechte durchsetzen würde. Und schließlich fordern Eltern, dass ihre Kinder erzogen werden sollen – allerdings sehr unterschiedlich!

 

Erziehung in einer sich verändernden Welt

Die zunehmende Komplexität der Welt, in der man sich Orientierung immer wieder neu erarbeiten muss und ein geänderter Blick auf Kinder als Träger von Rechten und als kompetente Akteure führten dazu, dass das Generationenverhältnis sich stark geändert hat und Kinder nicht mehr einfach zu leiten und zu dirigieren sind. Grenzen zu setzen ist schwierig geworden, weil der Anspruch auf Gewaltfreiheit sich (zum Glück!) durchgesetzt hat. Kinder müssen lernen, in Freiheit zu agieren und sich zugleich doch Regeln zu unterwerfen, die ihnen helfen. Diese Regeln können und sollten von den Kindern selbst (mit-)entwickelt werden; dann fällt es leichter, sich daran zu orientieren.

Erziehung braucht Erwachsene, die diese Rolle auch annehmen, was heute nicht mehr selbstverständlich ist. Erwachsene müssen gegenüber Kindern die Welt repräsentieren und daran glauben, dass Werte und Moral wichtig sind. Sie müssen Werte vertreten, aber auf Offenheit hin; d.h. diese immer wieder auch im Dialog mit Kindern hinterfragen. An dieser Stelle entstehen immer wieder Unsicherheit und Kritik, ob man nicht Erziehung doch wie früher entsprechend der Idee „die alte Generation weiß wo es lang geht“ also als einseitige, nicht dialogische Aktion konstruieren sollte. So werden heute immer wieder „Erziehungskatstrophen“ ausgerufen (z.B. Susanne Gaschke im Jahr 2000) und Erziehungsratgeber veröffentlicht, die vereinfachend zum Grenzen setzen auffordern.

 

Die Kita als Ort der Erziehung

Moderne Erziehung versteht sich in erster Linie als „Ortshandeln“. Entsprechend entwickelt die Kita ihre Erziehungsideen vor allem „über Bande“: sie nutzt die Kraft der Gestaltung von Räumen und Umwelten. Als Kollektiverziehung nutzt sie außerdem die Kraft der Peer-Group.

Sie reflektiert die Qualität der Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen – sind die Zwecke der Reifung und der Entwicklung zur Mündigkeit im Blick? Werden Bedürfnisse und Rechte von Kindern geachtet? (vgl. den Kernprozess „Partizipation“)

In der Erziehungspartnerschaft stimmt sie ihre Erziehungsvorstellungen und Ideen mit den Eltern ab.

 

Erziehung ist im Kern moralische Entwicklungsförderung und Hilfe bei der Konfliktbewältigung

(Zum Thema Konfliktbewältigung gibt es schon zwei sehr schön ausgearbeitete Qualitätsstandards QS 9: Konflikte und QS 10: Fehler, im Kernprozess 2.5 Bildungsangebote!!!)

Erziehung will Kinder dabei begleiten, wenn sie sich fragen: Was tut mir gut und was nicht? Welche Empfindungen habe ich und wie geht es den anderen? Was ist richtig, was ist falsch? Was ist gut, was ist böse? Und wie kann ich mich gut verhalten?

Moral / Normen und Werte / Tugend und Sittlichkeit bilden die wichtigsten Ziele der Erziehung. Der Aufbau der Moral beinhaltet zwar auch Anpassung (z.B. an Regeln des Kollektivs), die sogar als Zwang erlebt werden kann, letztlich aber gibt es keine Moralität ohne Freiwilligkeit, Einsicht und eigenes Urteil.

Moralische Entwicklungsförderung heißt nicht nur Wertevermittlung, sondern besonders das damit verbundene Verstehen und Bewältigen von Konflikten (innerpsychisch und zwischen Personen).

 

Erziehung heißt behüten, unterstützen und gegenwirken (Schleiermacher)

Kinder in ihrer Entwicklung zu behüten und zu unterstützen braucht Balancen: nicht zu viel und nicht zu wenig, nicht zu früh und nicht zu spät. Das wichtigste Wort in der Erziehung jedoch heißt NEIN! Dieses Nein aber muss erklärt und in Frage gestellt werden dürfen. Das Nein sagen ist also eine wichtige Aufgabe von Erziehung – aber nicht die Einzige. Insbesondere muss das Kind dabei unterstützt werden, das Nein zu respektieren und die Fachkraft muss ihr Nein im Team reflektieren – berücksichtigt es die Bedürfnisse und Rechte des Kindes? Erziehung ist also eher Arbeit an den Grenzen als das Setzen von Grenzen.

Gewaltfreie Erziehung ist die Errungenschaft der letzten 50 Jahre – das aber ist häufig herausfordernd: wenn Kinder schwierig sind, Fachkräfte nicht gut ausgebildet oder überfordert sind, keine ausreichenden Ressourcen vorhanden sind.

 

Kinder mit herausforderndem Verhalten in den Kitas

Immer häufiger berichten Fach- und Leitungskräfte von Kindern, die das System Kita an ihre Grenzen bringen – diese werden deshalb auch „Systemsprenger“ genannt. Immer häufiger werden diese Kinder deshalb aus den Kitas „rausgeworfen“ – verständlich, aber doch ein Skandal. Damit dies nicht mehr vorkommen muss, müssen aber die Schwierigkeiten mit „besonders herausfordernden Kindern“ deutlich gemacht und fachlich diskutiert werden. Der humane Ausweg heißt: Weiterentwicklung der Kitas zu multiprofessionellen pädagogischen Organisationen – also noch mehr Kooperation mit unterstützenden Diensten und bei Bedarf auch Einstellung zusätzlicher sozialpädagogischer oder psychologischer Fachkräfte

 

Warum wir stärker über Erziehung nachdenken sollten

Die Perspektive der Erziehung ist noch umfassender als die der Bildung: Manche halten Erziehung für die Basis von Bildung, andere für ihren „Zwilling“. Zwar haben die Kitas in den letzten 20 Jahren stark vom Fokus auf Bildung profitiert, doch die Perspektive der Erziehung ist in der Kita eigentlich genauso wichtig wie die der Bildung. Nicht umsonst ist die Kindertageserziehung der Kinder- und Jugendhilfe zugeordnet und nicht dem Bildungssystem.

Angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen stellen sich erzieherische Fragen immer wieder neu – aktuell z.B. angesichts der rasanten Entwicklungen der Digitalisierung. Diese Fragen müssen in Familien und Institutionen gelöst werden – besten gemeinsam.

Gerade zum Verstehen von Konflikten und Entwicklungsproblemen ist erzieherisches Beobachten und Denken wichtig: nicht nur das Kind ist im Fokus der Beobachtung, sondern auch die Interaktionen (unter Kindern / zwischen Kindern und Fachkräften). Erziehung ist ein kooperatives Unterfangen. Erzieherisch zu denken, bietet Auswege aus vereinfachenden gegenseitigen Zuschreibungen (gestörtes Kind, unfähige Eltern, überforderte Fachkräfte). Erwachsene aber können in der Reflexion von schwierigen Erziehungsfragen immer mit sich selbst anfangen: Was nehme ich wahr, wie fühle ich mich, was empfinde ich, wenn ich mich in dieses Kind hineinversetze?

Vortrag von Remi Stork im Rahmen der BETA-Gütesiegelfeier am 16.03.2018 in Bad Kreuznach

 

Weiterführende Literatur:

  • Sabine Andresen u.a. (Hg.): Erziehung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart (Metzler Verlag) 2013

 

  • Hermann Giese> 

     

    • Ludwig Liegle: Bildung und Erziehung in früher Kindheit. Stuttgart (Kohlhammer Verlag) 2006

     

    • Peter Menck: Was ist Erziehung? Universitätsverlag Siegen 2015

     

    • Michael Winkler: Kritik der Pädagogik. Der Sinn der Erziehung. Stuttgart (Kohlhammer Verlag) 2006

     

     

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